Der Geist formt den Körper – und der Körper formt den Geist
Interview mit Prof. Dr. Wildor Hollmann, Deutsche Sporthochschule Köln
Professor Hollmann, die Medizin leistet heute Großartiges, aber dennoch hat man nicht den Eindruck, dass die Menschen gesünder sind oder länger gesund bleiben.
Auf jeden Fall leben sie länger. Dank der medizinischen Fortschritte wird es in den kommenden Jahrzehnten weniger darauf ankommen, eine Krankheit zu heilen – das wird in gewissem Sinne zu einer Selbstverständlichkeit werden -, als vielmehr das Auftreten einer Erkrankung zu verhüten. Der Schwerpunkt in Forschung und Lehre wird sich verlagern von der Therapie auf die Prävention.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Schäden am Halte- und Bewegungsapparat und Krebserkrankungen treten heute bei immer jüngeren Menschen auf. Wie kann vorgebeugt werden?
Auch wenn es oft übertrieben klingt, aber der Schlüssel, diesen Erkrankungen entgegenzuwirken, ist die körperliche Aktivität. Sie muss sich mit all ihren positiven Effekten durch das ganze Leben ziehen: In Kindheit und Jugend ist eine genügende muskuläre Aktivität erforderlich zur optimalen Entwicklung von Körper und Geist. Beim erwachsenen Menschen beugen Training und Sport Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und sogar einigen Krebsleiden vor und bei älteren und alten Menschen lässt sich durch gezieltes Training den altersbedingten körperlichen und geistigen Leistungseinbußen entgegenwirken.
Nun ist uns allen ja die Einstellung nicht fremd: Mein Großvater hat nicht trainiert, mein Vater hat nicht trainiert und beide sind doch sehr alt geworden, warum also sollte ich trainieren?
Weil die jetzt lebende Generation der Menschen, bezogen auf ihre Millionen Jahre lange Geschichte, die Erste ist, die zur Bewältigung ihrer beruflichen und privaten Aufgaben so geringe Energiemengen verbraucht, dass biologischen Mindestanforderungen nicht mehr genügt wird. Durch Technisierung und Automatisierung sowohl im Berufs- wie auch im Privatleben ist der Kalorienverbrauch immer weiter zurückgegangen. Allein in den letzten vierzig Jahren ist der Kalorienverbrauch beim Mann um 40 und bei der Frau um 30 Prozent zurückgegangen. Die mangelnde Bewegung und das daraus resultierende Missverhältnis zwischen Kalorienverbrauch und Kalorienzufuhr bringt den gesamten biochemischen Haushalt unseres Körpers aus dem Gleichgewicht. Gezielte muskuläre Bewegung ist für unsere Generation also zu einer biologischen Notwendigkeit geworden.
Und das gilt schon für das Kindesalter. Es ist doch erschreckend, dass heute 6.000 Kinder jährlich an Diabetes mellitus Typ 2 erkranken, dem sogenannten Altersdiabetes.
Das ist richtig. Noch vor zehn Jahren waren Lungenfunktionsstörungen und Asthma die Hauptprobleme im Kindes- und Jugendalter. Das hat sich gewandelt. Heute ist weltweit das Übergewicht bis hin zur Adipositas, also der Fettleibigkeit, der Hauptrisikofaktor. Warum das so ist, ist noch nicht bis in alle Einzelheiten erforscht, aber man weiß, dass der Bewegungsmangel zu Störungen der genetischen Regulation mit der Folge der Fettbildung führt.
Untersuchungen belegen, dass 12- bis 16-Jährige heute um die fünf Stunden täglich mindestens mit Fernsehen und Computerspielen verbringen. Zeit, die sie früher mit Fahrradfahren, Fußballspielen oder Herumtollen im Freien verbracht haben. Das vermindert auf der einen Seite ganz enorm den Energieverbrauch und zum anderen braucht der Körper ein Mindestmaß an Bewegung, um die hormonelle Steuerung von Körper und Geist in einer hormonell ausgewogenen Balance zu halten.
Wenn wir hier nicht energisch gegensteuern, werden sich die Fälle des früh auftretenden Altersdiabetes in den kommenden Jahren drastisch erhöhen. Und das wird neben dem individuellen Leid Unsummen an Behandlungskosten verschlingen, denn keine Krankheit ist so teuer wie der Diabetes wegen der vielfältigen Folgeerkrankungen. Hier können und müssen wir vorbeugen. Prävention ist das Entscheidende.
Es gilt also, jeden und jede zu motivieren, mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen?
Ja, jetzt so ganz langsam fangen wir an zu begreifen, dass dies nötig ist. Dabei haben wir diese Erkenntnisse schon seit vierzig Jahren. Aber um ein wirkliches Umdenken zu erreichen, müssen wir praktisch die gesamte Gesellschaft verändern.
Das geht los bei den Eltern, die in puncto Nichtrauchen, Ernährung und Bewegung Vorbild sein müssen, über Städte und Gemeinden, die bei der Stadtplanung die Voraussetzungen für Spielplätze schaffen müssen, über Volkshochschulen, die Bundeswehr bis hin zu den Spitzenpolitikern, die die Rahmenbedingungen schaffen müssen. Und auch die Medien können ihren Teil beitragen über Information und noch mal Information. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, für die Verhaltensänderung zu werben.
Ist körperliches Training in jedem Lebensalter sinnvoll?
Eindeutig ja. Das ist ja gerade das Schöne, dass die Trainierbarkeit des Menschen unabhängig von seinem Alter erhalten bleibt. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst 70- oder 80-Jährige nach einem mehrwöchigen Training eine organische Leistungsfähigkeit wiedererlangten, die den Durchschnittswerten von je zwanzig Jahre jüngeren untrainierten Personen entsprach. Durch geeignetes körperliches Training gelingt es, gewissermaßen 20 Jahre lang 40 zu bleiben.
Das bezieht sich auf die körperliche Fitness, aber hat Bewegung auch einen Einfluss auf die geistige Beweglichkeit?
Das können wir heute eindeutig mit Ja beantworten. Früher hat man gedacht, das Gehirn ist wie ein Computer. Aber die „Hardware“ Gehirn gibt es nicht. Die Positronen-Emissions-Tomografie und die Magnet-Resonanz-Tomografie haben uns hier ungeahnte Einblicke erlaubt, die den Zusammenhang zwischen körperlicher Bewegung und dem Erhalt oder der Neubildung von Gehirnstrukturen belegen.
Bei Kindern wird so eine optimale Voraussetzung für intellektuelle Leistung geschaffen, bei älteren Menschen können sogar bereits eingebüßte Hirnstrukturen durch Bewegung kompensiert werden. Und dabei spielt es keine Rolle, wann man mit dem Training beginnt, entscheidend ist, dass man es tut. Insofern können wir heute einen Ausspruch eines griechischen Philosophen ergänzen, der sagte: Der Geist formt den Körper. Heute können wir sagen: Und der Körper formt den Geist.
Zur Person: Prof. mult. Dr. med. Hollmann ist emeritierter Ordinarius für Kardiologie und Sportmedizin sowie Ehrenpräsident des Weltverbandes für Sportmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention. Prof. Hollmann selbst lebt, was er lehrt: Er ist körperlich und geistig aktiv und so ein lebendiger Beweis, dass man auch im hohen Alter fit sein kann, wenn man sich fordert.
Aus: BARMER – Das aktuelle Gesundheitsmagazin, Ausgabe 3/2006